György Dragomán: ‘An der Kinderwelt kann man am besten ablesen, wie eine Diktatur funktioniert.’
Quelle: Café Babel
Natalia Sosin – Warschau – 25.6.2007
Übersetzung : Margarethe Padysz
Der 34-jährige, in Transsilvanien geborene, ungarische Autor blickt mit Kinderaugen auf die Absurdität und Grausamkeit eines totalitären Staatssystems.
Dragomán lebt seit nunmehr 20 Jahren in Ungarn. Er übersetzt Klassiker von Beckett oder Joyce, aber auch zeitgenössiche irische Literatur, wie Trainspotting von Irvine Welsh, ins Ungarische. Sein Name – Dragoman – bedeutet in vielen Ländern des Nahen Ostens Übersetzer und Reiseführer. Zu seinem Repertoire zählen Novellen, Märchen und ein Theaterstück. 2002 gab György Dragomán mit der Veröffentlichung des Titels Buch der Destruktion sein Autorendebüt, für das er den “Sándor Brody-Preis” erhielt. Seine zweite Erzählung, Weißer König, die kürzlich in Polen erschien, brachte ihm den “Tíbor Déry”- sowie den “Sándor Márai-Preis” ein.
Trotz der vielen Erfolge, glänzt der Autor mit Bescheidenheit. Der Erfolg seines Buches scheint ihn überwältigt zu haben. Wir treffen uns in der bekannten Künstler-Bar ARTistic im Warschauer Stadtteil Wola, wo ein Autorentreffen zur Diskussion des Buches Weißer König stattfindet. Unter dem Denkmantel von Kindheitserzählungen, schildert die Erzählsammlung die Facetten der Grausamkeit im kommunistischen Ungarn.
“Ich konnte diesen Satz nicht vergessen.”
Die Idee, ein Kind als Protagonisten zu wählen, kam Dragomán ganz spontan: “Vor vier Jahren habe ich den Fernseher eingeschaltet und einen Mann gesehen, von dem alle dachten, er sei verschollen. Er war ein bekannter Torwart, der 1986 im UEFA-Cup Finale gegen Barcelona vier Elfmeter gehalten hatte und daraufhin spurlos verschwunden war. Es ging das Gerücht um, dass der Diktator (Nicolae Ceauşescu) ihm aus Eifersucht die Hand gebrochen hätte, weil er einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht hatte als er. Doch urplötzlich tauchte der Torwart unverhofft im Fernsehen auf. Er gab jedoch keine Auskunft zu den Umständen seines Verschwindens. Er erzählte hingegen, wie sich die Mannschaft für das Spiel nach der Explosion in Tschernobyl vorbereitet hat. Die Torwarte sollten Ballkontakte so gut wie möglich vermeiden, weil der rollende Ball die gesamte Radioaktivität des Rasens aufnehme. Ich konnte diesen Satz nicht vergessen. Ein Torwart, der den Ball nicht berührt! Etwas dermaßen absurdes konnte nur aus einem Kindermund stammen. Und dann hörte ich eine Stimme in mir, die mir keine Ruhe lassen wollte…”
Charakteristisch für Dragomán sind neben der ‘kindlichen’, fließenden und teilweise chaotischen Erzählweise seine detaillierten Beschreibungen. In seinen Erzählungen häufen sich Erinnerungen und Beschreibungen von Gegenständen. Spielzeug, Karten, Taschenmesser, handgemachte ‘Waffen’ für den Kampf gegen die Jungen aus der Nachbarstraße. “Ein Großteil der Gegenstände sind Ausgangspunkte für die nächste Geschichte. Ich beobachte gewöhnlich, wenn ich schreibe. Später setzte ich mich vor eine Wand, schaue sie an und konzentriere mich auf einen Gegenstand, bis ich die Geschichte sehe, die sich hinter ihm verbirgt.“
Vater sein in einer vaterlosen Gesellschaft
Dragománs Geschichten sind traurig und bewegend, voll von Grausamkeit, Gewalt, und Demoralisierung. Da ist ein Familienvater, der wegen Aktivitäten in der Opposition verhaftet wird. Ein Großvater, gleichzeitig ehemaliger Parteiaktivist, der sich nicht zu seinem Sohn bekennt. Eine Mutter, die versucht den Schein der Normalität zu wahren. Die Helden sind einer stetigen Staatswillkür ausgesetzt, die die Gesellschaft durchtränkt und ihre Menschen seelenlos und verbittert werden lässt. Besonders Erwachsene, oder auch Lehrer, die selbst vom System unterdrückt werden, finden ihr Ventil in der Wehrlosigkeit der Kinder. “Die Erzählung handelt davon, wie man in einer Welt, in der es keine Väter gibt, die uns beschützen, selbst zum Vater werden kann.”
Die herrliche und auf ewig verlorene Kindheit ist ein Thema, dessen Künstler sich oft annehmen. Dragomán verneint jedoch, dass die Kinderwelt eine Welt der Unschuld und Reinheit ist. Wenn er über seine Kindheit spricht ist der Autor wenig nostalgisch. “Ich möchte sie nicht vergessen, denn über was sollte ich sonst schreiben? Die Welt der Kinder ist eine gewalttätige, weil man darin um sich und seine Position kämpfen muss. Kinder kämpfen immer miteinander und können außerordentlich skrupellos und grausam sein. An der Welt der Kinder, wo das Recht des Stärkeren gilt, kann man am besten ablesen, wie eine Diktatur funktioniert!”
Geheimnisvoll wie seine Heimat
Dragoman wurde in Transsilvanien geboren Doch 1988, im Alter von 15 Jahren, wanderte er mit der gesamten Familie nach Ungarn aus. Mit dem Umzug schließt sich ein Kapitel seines Lebens. “Emigration ist ein empfindliches Thema, ein schwieriges Erlebnis. Für jemanden, der aus Siebenbürgen auswandern musste, war es nicht einfach.” Obwohl die Biografie des Autors, genauso wie die geheimnisvolle Geschichte seiner Heimat, kompliziert sind, hat er keine Identitätsprobleme. “Ich bin Ungar, obwohl ich viele Dinge auch als Außenstehender beurteilen kann. Ich denke, ich hatte in gewissen Dingen einfach Glück. Wie Joyce einst sagte: Wenn du ein Mensch der Moderne sein willst, musst du deine Familie, deine Heimat und deine Religion verloren haben. Genau das ist mir zugestoßen.”, so Dragomán ironisch.
Aus genau dieser Doppelperspektive blickt György Dragomán heute auf Ungarn. Er überlegt sogar, ein Buch über die kürzlichen Unruhen des Landes gegen seine Regierung zu schreiben. Ein Buch, das “an eine Granatenexplosion erinnern soll, das in viele Bruchstücke zerfällt. Und jedes dieser Bruchstücke wäre eine getrennte Geschichte, ein getrenntes Leben”. Dragomán versteht die Unruhen jedoch nicht als Kampf gegen das bestehende System. “Der Zusammenbruch des Systems war ein wundervolles, ekstatisches Ereignis. Nach so vielen Jahren des Kommunismus war es schwer an den Umbruch zu glauben. Das, was gerade geschieht, ist nur ein Echo der damaligen Zeit. Politiker beider Lager haben Leichen im Keller. Ungarn ist kein funktionierendes Land. Das war es nie. Doch heutzutage macht dieser Zustand Menschen wütend. Wir lernen damit umzugehen, weil dies ein Teil unserer Identität ist. Die Parteien werden jedoch weiterhin nicht miteinander reden. Sie werden sich immer hassen und weißt du was? Das sollte uns nicht bekümmern, weil es keine wirklich interessante Geschichte ist.”
Gepl. Erscheinung, deutsche Ausgabe: 10.03.2008 (György Dragomán: Der weiße König; Übersetzung: László Kornitzer; Verlag: Suhrkamp)
Die englische Ausgabe wird am 1. Januar 2008 erscheinen (Gyorgy Dragoman: White King; Übersetzung Paul Olchvary; Verlag: Doubleday)