Das erste Kapitel von Der weiße König

Am Abend hatte ich den Wecker unter mein Kopfkissen gelegt, damit nur ich das Klingeln hörte und Mutter nicht aufgeweckt würde, doch noch bevor er geklingelt hatte, war ich schon wach, so aufgeregt war ich wegen der Vorbereitungen für die Überraschung. Ich nahm die vernickelte chinesische Taschenlampe vom Schreibtisch, zog den Wecker unterm Kopfkissen hervor, leuchtete ihn an, es war Viertel vor fünf, ich drückte auf den Knopf, damit der Wecker nicht klingelte, dann nahm ich die zurechtgelegten Kleider von der Stuhllehne und zog mich rasch an, dabei achtete ich die ganze Zeit darauf, keinen Krach zu machen. Als ich die Hose anzog, stieß ich versehentlich gegen den Stuhl, zum Glück fiel er aber nicht um, schlug nur leicht gegen den Tisch, auch die Zimmertür öffnete ich ganz vorsichtig, aber ich wußte, daß sie nicht knarren würde, denn ich hatte die Scharniere tags zuvor mit Maschinenöl geschmiert. Ich ging zur Kredenz, zog sehr langsam die mittlere Schublade heraus, nahm die große Schere, mit der Mutter mir immer die Haare schnitt, öffnete das Sicherheitsschloß und verließ leise die Wohnung, bis zum ersten Treppenabsatz hielt ich mich noch zurück, dann aber rannte ich die Treppe schnell hinunter. Als ich unten vor dem Block stand, war mir schon ganz heiß, ich schlug den Weg zum kleinen Park ein, denn dort, im Zierbeet neben dem Brunnen, wuchsen die schönsten Tulpen der Stadt.
Vater war schon seit einem halben Jahr nicht mehr bei uns, obwohl es geheißen hatte, daß er nur für eine Woche wegfahren würde, ans Meer, zu einer Forschungsstation, in einer äußerst dringlichen Angelegenheit, beim Abschied hatte er zu mir gesagt, wie leid es ihm tue, mich nicht mitnehmen zu können, denn das Meer biete jetzt, im Spätherbst, einen wirklich unvergeßlichen Anblick, es sei viel wilder als im Sommer, werfe riesige gelbe Wellen, alles sei voll weißer Gischt, so weit das Auge reicht, macht nichts, hatte er versprochen, wenn er wieder nach Hause komme, werde er mich mitnehmen, um es mir zu zeigen, er verstehe gar nicht, wie es dazu kommen konnte, daß ich schon zehn war und noch immer das Meer nicht gesehen hatte, egal, wir würden schon nachholen, was nachgeholt werden muß, man solle nichts übereilen, wir hätten genug Zeit für alles, das ganze Leben liege noch vor uns, das war einer seiner Lieblingssätze, ich hatte nie wirklich verstanden, was das bedeutete, und als er dann nicht zurückkam, dachte ich oft über diesen Satz nach, und auch der Abschied fiel mir oft ein, als ich ihn zuletzt gesehen hatte, seine Kollegen hatten ihn mit einem grauen Kombi abgeholt, ich kam gerade aus der Schule, als sie losfuhren, wäre die letzte Stunde nicht ausgefallen, Naturkunde, hätte ich sie gar nicht mehr angetroffen, sie stiegen gerade in den Kombi, als ich ankam, sie schienen sehr in Eile, die Kollegen meines Vaters wollten nicht einmal erlauben, daß er mit mir sprach, doch Vater blaffte sie an, sie sollten sich nicht so anstellen, auch sie hätten Kinder und wüßten, wie das sei, die fünf Minuten würden jetzt auch keine Rolle mehr spielen, einer seiner Kollegen, ein großgewachsener weißhaariger Mann im grauen Anzug, zuckte mit den Achseln und sagte, kein Problem, auf fünf Minuten komme es tatsächlich nicht mehr an, da kam Vater zu mir, blieb vor mir stehen, aber er streichelte mich nicht, umarmte mich auch nicht, sondern hielt die ganze Zeit sein Sakko über beiden Händen, und er erzählte mir von dieser Sache da am Meer, daß er im Forschungsinstitut dringend gebraucht werde, er werde eine Woche fort sein, und sollte die Lage kompliziert werden, vielleicht auch ein bißchen länger, so lange, bis er die Dinge in Ordnung gebracht hätte, und dann sprach er noch ein bißchen über das Meer, aber dann kam der große, grauhaarige Mann zu uns, legte meinem Vater die Hand auf die Schulter und sagte, kommen Sie, Herr Doktor, die fünf Minuten sind um, wir müssen jetzt gehen, weil wir sonst das Flugzeug verpassen, Vater beugte sich zu mir runter und küßte mich auf die Stirn, aber er umarmte mich nicht, er sagte, ich solle auf Mutter aufpassen und ein guter Junge sein, denn nun sei ich der Mann im Haus und müsse mich anständig benehmen, und ich sagte, in Ordnung, ich würde schon achtgeben, und er solle auf sich aufpassen, sein Kollege schaute mich daraufhin an, er sagte, keine Sorge, Junge, wir werden schon auf den Herrn Doktor aufpassen, und er zwinkerte mir zu, öffnete dann die Tür des Kombi und half ihm beim Einsteigen, inzwischen ließ der Fahrer den Motor an, und kaum hatte sich die Tür hinter meinem Vater geschlossen, fuhren sie auch schon los, und ich hob meine Schultasche auf, wandte mich um und ging zum Treppenhaus, denn ich hatte mir einen neuen Stürmer für meine Knopffußballmannschaft besorgt und wollte ausprobieren, ob er auch auf dem Wachstuch so gut rutscht wie auf dem Karton, ich blieb nicht stehen und winkte auch nicht, schaute dem Kombi nicht hinterher, wartete nicht, bis er am Ende der Straße verschwunden war. Ich erinnere mich sehr klar an Vaters Gesicht, er war unrasiert und hatte nach Zigaretten gerochen, er sah sehr müde aus, lächelte irgendwie schief, ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich glaube nicht, daß er geahnt hat, daß er nicht nach Hause zurückkehren würde, eine Woche später bekamen wir einen Brief von ihm, er schrieb, die Lage sei wesentlich ernster als erwartet, über Einzelheiten dürfe er aus Staatssicherheitsgründen nicht sprechen, aber er müsse noch eine Weile dort bleiben, wenn alles gutgehe, werde er vielleicht in ein paar Wochen Urlaub bekommen, für ein, zwei Tage, aber einstweilen sei er unabkömmlich. Seither hat er noch einige Briefe geschickt, so alle drei, vier Wochen einen, in allen stand, daß er bald nach Hause kommen werde, aber dann konnte er nicht mal zu Weihnachten kommen, auch Silvester hatten wir vergeblich auf ihn gewartet, und nun war schon April, und es kamen auch keine Briefe mehr von ihm, und langsam glaubte ich schon, daß Vater in Wirklichkeit ins Ausland geflüchtet war, so wie der Vater von Egon, meinem Klassenkameraden, der durch die Donau geschwommen war und sich nach Jugoslawien abgesetzt hatte und von dort in den Westen, auch sie bekamen keine Nachricht von ihm, so daß sie nicht wußten, ob er überhaupt noch am Leben war.
Ich lief hinter den Blocks entlang, weil ich niemandem begegnen wollte, ich wollte nicht, daß mich irgend jemand fragte, wohin ich so früh am Morgen ging. Zum Glück war beim Brunnen kein Mensch, ich kletterte über den Kettenzaun, hinein ins Blumenbeet, zu den Tulpen, ich holte die große Schere hervor und begann die Blumen abzuschneiden, ich schnitt die Stiele ganz unten, dicht über der Erde ab, Großmutter hatte einmal gesagt, je weiter unten man die Stiele der Tulpen abschneide, um so länger blieben sie frisch, am besten schneide man sie gleich mitsamt den Blättern ab, zuerst wollte ich nur fünfundzwanzig Stück abschneiden, aber irgendwo bei fünfzehn verzählte ich mich, so daß ich weiter eine nach der anderen abschnitt, meine Jacke war naß vom Tau, auch meine Hose, aber ich kümmerte mich nicht darum, ich dachte an meinen Vater, daß auch er es jedes Jahr so gemacht hatte, auch er hatte bestimmt jedes Frühjahr die Tulpen so abgeschnitten, Mutter erzählte oft, daß Vater mit Tulpen um ihre Hand angehalten, ihr mit Tulpensträußen den Hof gemacht und auch ihren Hochzeitstag mit Tulpen gefeiert habe, an jedem siebzehnten April habe er sie mit einem großen Strauß Tulpen überrascht, am Morgen, wenn sie aufgewacht war, hätten die Blumen auf dem Küchentisch auf sie gewartet, und ich wußte, daß jetzt der fünfzehnte Hochzeitstag war, und ich wollte, daß Mutter einen großen Strauß bekäme, so groß wie nie zuvor.
Ich schnitt so viele Tulpen ab, daß ich sie kaum zusammenhalten konnte, und als ich versuchte, sie an mich zu drücken, rutschten sie mir aus den Händen, ich legte den Strauß auf die Erde, schüttelte den Tau von der Schere und schnitt weitere Tulpen ab, eine nach der anderen, ich dachte dabei an Vater, daß bestimmt auch er mit dieser Schere die Blumen abgeschnitten hatte, ich sah auf meine Hand und versuchte, mir die Hände meines Vaters vorzustellen, aber es gelang mir nicht, ich sah nur meine eigenen schmalen, weißen Hände, meine Finger in den abgewetzten Metallgriffen der Schere, und da brüllte mich ein älterer Mann an, was ich denn da treibe, ich solle sofort zu ihm kommen, was ich mir einbilde, die Blumen einfach so abzuschneiden, er werde die Polizei rufen und mich in eine Besserungsanstalt bringen lassen, wo ich hingehöre, ich schaute zu ihm rüber, zum Glück kannten wir uns nicht, so daß ich ihm zurief, er solle den Mund halten, Blumen stehlen ist kein Verbrechen, dann steckte ich die große Schere in die Hosentasche, griff mit beiden Händen nach den Tulpen und hob sie von der Erde auf, einige blieben liegen, dann sprang ich auf der anderen Seite aus dem Beet, hörte, wie er schrie, ich solle mich schämen, so zu reden, aber er habe sich meine Nummer notiert, doch ich schaute mich nicht mal mehr um, ich wußte, daß er sie nicht hatte aufschreiben können, denn ich hatte extra die Jacke angezogen, auf der die Nummer von der Schule nicht aufgenäht war, so lief ich ruhig nach Hause, hielt die Blumen mit beiden Händen, damit sie nicht brachen, die Tulpenköpfe schlugen aneinander, manchmal auch gegen mein Gesicht, die breiten Blätter raschelten, es roch wie beim Rasenmähen, nur noch viel stärker.
Als ich im vierten Stock angekommen war, blieb ich vor der Tür stehen, hockte mich hin und legte die Blumen behutsam auf die Fußmatte, dann erhob ich mich und öffnete leise die Wohnungstür, trat über die Blumen hinweg und stand nur da im dunklen Flur und horchte. Zum Glück war meine Mutter noch nicht aufgewacht, so daß ich die vielen Tulpen in die Küche trug, ich legte sie auf den Küchentisch, ging in die Speisekammer, holte unterm Regal das größte Einmachglas hervor, ging damit zum Wasserhahn, füllte es mit Wasser, stellte es mitten auf den Küchentisch und tat die Tulpen hinein, es waren so viele, daß sie nicht alle ins Glas paßten, etwa zehn Stück blieben übrig, ich legte sie ins Abwaschbecken, ging dann zurück zum Tisch und versuchte, so gut es ging, den Strauß zu ordnen, aber es klappte nicht so recht, wegen der vielen Blätter standen die Tulpen ziemlich durcheinander, einige waren zu kurz, andere zu lang, ich begriff, daß ich die Stiele gleich lang schneiden mußte, wenn ich wollte, daß der Strauß irgendwie besser aussähe, und da fiel mir ein, wenn ich den großen Waschkübel aus der Kammer holte, hätten alle Blumen darin Platz, ich müßte nicht mal die Stiele nachschneiden, so daß ich wieder zur Speisekammertür ging, sie öffnete, mich bückte und den Topf unterm Regal hervorzog, doch da hörte ich, wie die Küchentür aufging und meine Mutter fragte, wer da sei, ist da jemand, sie sah mich nicht, weil mich die Tür verdeckte, aber ich sah durch die Türritze, wie sie da stand, in ihrem langen weißen Nachthemd, barfuß, und ich sah ihr Gesicht, als sie die Tulpen erblickte, ihr Gesicht wurde ganz weiß, mit einer Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, ihr Mund öffnete sich, ich dachte, sie würde jetzt lachen, aber ihr Gesicht sah eher so aus, als wollte sie aufschreien, als wäre sie sehr erbost oder als täte ihr etwas sehr weh, plötzlich verzog sich ihr Mund zu einem Grinsen, ihre Augen wurden schmal, ich hörte sie tief Luft holen, dann blickte sie sich in der Küche um, und als sie die offene Speisekammertür sah, ließ sie den Türrahmen los und strich sich die Haare aus dem Gesicht, seufzte und fragte, bist du das, mein Kleiner, aber ich sagte nichts, sondern kam nur hinter der Speisekammertür hervor und blieb am Eßtisch stehen, und erst da sagte ich, daß ich ihr eine Überraschung bereiten wollte und sie bitte nicht böse sein solle, ich hätte nichts Schlimmes gewollt, ich hätte es nur getan, weil Vater mich gebeten hätte, solange er nicht da sei, solle ich der Mann im Hause sein, und da sah ich, daß Mutter zu lächeln versuchte, aber ihre Augen verrieten, daß sie immer noch sehr traurig war, sie sagte, sie sei mir nicht böse, ihre Stimme war ganz tief und rauh, sie sei mir nicht böse, sie bedanke sich sehr, und als sie das sagte, trat sie auf mich zu und umarmte mich, aber nicht so wie sonst, sondern viel stärker, sie drückte mich sehr heftig an sich wie einmal, als ich krank gewesen war, und auch ich umarmte sie und drückte sie an mich, durch meine Kleider und durch ihr Nachthemd fühlte ich ihren Herzschlag, mir fielen die Tulpen ein und wie ich im Park auf der Erde gekniet und eine Tulpe nach der anderen abgeschnitten hatte, und ich fühlte, daß mich Mutter noch stärker an sich drückte, und auch ich drückte sie noch stärker an mich, ich hatte immer noch den Geruch der Tulpen in der Nase, vermischt mit dem grünen und starken Duft des Grases, und da spürte ich, wie es Mutter schüttelte, ich wußte, daß sie gleich zu heulen beginnen würde, und wußte auch, daß ich dann ebenfalls heulen würde, was ich nicht wollte, aber ich konnte sie nicht loslassen, nur an mich drücken, ich wollte ihr sagen, sie solle nicht traurig sein, es sei alles in Ordnung, aber ich konnte nicht sprechen, bekam einfach den Mund nicht auf, und da drückte jemand auf die Klingel an der Wohnungstür, hielt beharrlich die Hand darauf, die Klingel schrillte sehr laut und sehr lange, einmal, zweimal, dreimal, und da spürte ich, wie Mutter ihre Umarmung lockerte, ihr ganzer Körper wurde plötzlich irgendwie kalt, ich ließ sie los und sagte, ich würde schon gehen und nachsehen, wer das sei.
Als ich zur Tür ging, fiel mir ein, daß es bestimmt die Polizisten waren, denn der Mann im Park hatte mich vielleicht doch erkannt und angezeigt, und jetzt kamen sie, um mich abzuholen, weil ich das Gemeingut beschädigt und die Tulpen gepflückt hatte, und da dachte ich, es wäre besser, die Tür nicht zu öffnen, aber die Klingel ging die ganze Zeit, surrte sehr laut, inzwischen wurde auch schon geklopft, so daß ich das Sicherheitsschloß umdrehte und die Tür öffnete.
Es waren keine Polizisten, sondern Vaters Kollegen, die vor der Tür standen, jene, mit denen ich ihn damals hatte weggehen sehen, ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbrachte, da blickte mich der große Grauhaarige an und fragte, ob meine Mutter zu Hause sei, ich nickte, und mir kam der Gedanke, daß Vater ihnen bestimmt ein Geschenk zum Hochzeitstag mitgegeben hatte, und ich wollte gerade sagen, sie sollten eintreten, denn meine Mutter würde sich sehr freuen, aber noch bevor ich etwas sagen konnte, fuhr mich der Grauhaarige an, ob ich denn nicht gehört hätte, er hätte doch was gefragt, und da sagte ich, ja, sie sei zu Hause, worauf der andere, der Kleinere, ebenfalls den Mund aufmachte, er sagte, dann würden sie hereinkommen, er schob mich beiseite, und sie traten einfach ein und blieben im Flur stehen, da fragte mich der Kleinere, wo sich das Zimmer meiner Mutter befände, und ich sagte, Mutter sei in der Küche, und ging auch schon voraus und rief, Vaters Kollegen seien hier, sie hätten bestimmt einen Brief von ihm gebracht oder er hätte ein Geschenk geschickt, Mutter trank gerade Wasser aus dem Henkelbecher, mit dem wir immer die Kaffeemaschine auffüllten, ihre Hand verharrte mitten in der
Bewegung, sie schaute mich an, dann wanderte ihr Blick von mir zu den Kollegen meines Vaters, und ich sah, daß ihr Gesicht hinter dem Becher blaß wurde, sie die Hand mit dem Becher sinken ließ, und ich sah, daß auch ihre Lippen erstarrten, als ob sie plötzlich böse würde, und da fragte sie Vaters Kollegen sehr laut, was sie hier zu suchen hätten, und knallte den Henkelbecher auf die Ablage, daß der ganze Rest Wasser herausschwappte, währenddessen sagte sie, sie sollten sich fortscheren, und da traten sie beide hinter mir in die Küche, der große Grauhaarige grüßte gar nicht erst, sondern fragte meine Mutter unvermittelt, was los sei, Sie haben es dem Kind anscheinend gar nicht erzählt, und da schüttelte Mutter den Kopf und sagte, das geht Sie nichts an, aber der große Grauhaarige sagte, das sei ein Fehler gewesen, denn früher oder später werde ich es sowieso erfahren und es sei am besten, dergleichen gleich am Anfang klarzustellen, weil die Lüge nur weitere Lügen gebäre, und da lachte Mutter auf und sagte, ach, richtig, Sie sind ja die Freunde der Wahrheit, und da ging der Kleinere gleich dazwischen und sagte, meine Mutter solle den Mund halten, und sie schwieg dann tatsächlich, und der Grauhaarige trat auf mich zu und fragte, du, mein Junge, glaubst du immer noch, daß wir die Kollegen deines Vaters sind, und ich sagte nichts, spürte aber, daß mir kalt wurde, wie in der Turnstunde nach dem Leistungstest, wenn man sich vorbeugen muß, weil man sonst keine Luft kriegt, und da lächelte mich der Grauhaarige an und sagte, ich solle wissen, daß sie gar nicht die Kollegen meines Vaters, sondern von der Inneren Sicherheit seien, mein Vater sei verhaftet worden, weil er an einer staatsfeindlichen Aktion teilgenommen habe, so daß ich ihn eine Zeitlang bestimmt nicht wiedersehen werde, eine lange Zeit, weil mein Vater am Donaukanal schufte, ob ich wisse, was das bedeutet, das bedeute, daß er in einem Arbeitslager sei, und bei seiner Konstitution werde er es bestimmt nicht lange durchhalten und nie mehr von dort zurückkehren, er sei gar nicht mehr am Leben, und als er das sagte, faßte meine Mutter nach dem Becher und schmetterte ihn zu Boden, so daß er in Stücke zerbrach, und der Offizier hörte auf weiterzusprechen, einen Moment lang war es still, und Mutter sagte, es sei genug, sie sollten aufhören, wenn man auch sie mitnehmen wolle, dann solle man es tun, mich aber sollten sie in Ruhe lassen, weil ich noch ein Kind sei, verstehen Sie, lassen Sie ihn in Ruhe und sagen Sie endlich, was Sie wollen, sagen Sie, was Sie hier zu suchen haben.
Darauf sagte der Kleinere, daß sie nur so in der Gegend gewesen seien, und wo sie schon mal hier seien, könnten sie sich auch gleich ein bißchen umsehen, vielleicht fänden sie irgendwas Interessantes im Zimmer des Herrn Doktor.
Mutter fragte, ob sie einen Befehl hätten, und der große grauhaarige Offizier lächelte meine Mutter an, hierzulande brauche man nicht für jede Kleinigkeit einen Befehl, es hätte nicht groß was zu bedeuten, wenn sie sich ein bißchen umsähen, er glaube nicht, daß wir irgendwas zu verbergen hätten.
Mutter sagte daraufhin sehr laut, daß sie dazu keinerlei Recht hätten, sie sollten verschwinden, sie sollten gehen, und wenn nicht, werde sie auf der Stelle, so wie sie angezogen sei, zum Rathaus gehen und einen Sitzstreik anfangen, sie werde öffentlich fordern, ihren Mann freizulassen, was sind das für Zustände, daß man ohne jede Gerichtsverhandlung seit einem halben Jahr in Haft sitzt, was ist das für ein Land, es gebe doch eine Verfassung, wir hätten Gesetze, zur Hausdurchsuchung bedürfe es immer noch eines Befehls, den sollten sie ihr zeigen oder verschwinden.
Der grauhaarige Offizier lächelte Mutter an und sagte, daß ihr das Kämpferische äußerst gut stehe, und mein Vater vermisse sie dort am Donaukanal sicher sehr, denn sie sei wirklich eine wunderschöne Frau, nur schade, daß sie sich nie mehr wiedersehen werden.
Meine Mutter errötete, sie wurde ganz rot im Gesicht, ich sah, wie sich ihr ganzer Körper anspannte, ich dachte, gleich würde sie zum grauhaarigen Offizier treten und ihn ohrfeigen, ich glaube, ich habe sie noch nie so erregt erlebt, und da machte meine Mutter tatsächlich eine Bewegung, aber nicht zum Offizier hin, vielmehr ging sie geradewegs zur Wohnungstür, öffnete sie und sagte, so, das sei genug, raus hier, sie sollten ihr Haus auf der Stelle verlassen, und falls nicht, werde sie sofort ihren Schwiegervater anrufen, sie wüßten genau, daß er Parteisekretär gewesen sei, und auch wenn man ihn in Pension geschickt habe, er habe durchaus noch Verbindungen, um sie für das, was sie hier anstellten, in die Abteilung Verkehrswesen versetzen zu lassen, wenn sie also für sich selbst was Gutes tun wollten, sollten sie endlich verschwinden, Mutter sagte es so resolut, so fest, daß sogar ich es beinah geglaubt hätte, obwohl ich wußte, daß Mutter niemals ohne Not meine Großeltern anrufen würde, denn seit meine Großmutter ihr direkt ins Gesicht gesagt hatte, daß sie eine abnorme jüdische Hure sei, hatte meine Mutter weder mit ihr noch mit meinem Großvater gesprochen, doch aus der Art, wie Mutter es sagte, war das nicht zu entnehmen.
Der kleinere Offizier sagte daraufhin, ach so, wenn sie glaube, daß der Alte noch über irgendeinen Einfluß verfüge, gerade jetzt, wo sein Sohn weggebracht worden sei, dann irre sie sich aber gewaltig, sie könne froh sein, daß mannichtauchnochsieinterniere,dochwennmeineMutter telefonieren und sich beschweren wolle, bitte schön, und er trat zur Anrichte, griff eine Schublade und riß sie heraus, aber mit solcher Wucht, daß die Schublade in seiner Hand blieb und Messer, Gabeln und Löffel durch die Küche flogen, der Offizier knallte die Schublade gegen die Anrichte, so daß der hintere Teil abbrach, und er sagte, bitte, nun habe sie einen Grund, sich zu beschweren, dabei sei es erst der Anfang, ganz bestimmt erst der Anfang, und ich sah, wie er grinste, und wußte, daß er gleich auch den Tisch umschmeißen würde, aber da legte der Grauhaarige ihm die Hand auf die Schulter und sagte, ruhig Blut, Gyurka, ganz ruhig, laß das, anscheinend haben wir die Dame falsch eingeschätzt, wir dachten, sie sei eine kluge Frau, wir dachten, sie wüßte, wann und mit wem sie freundlich sein muß, aber es sieht so aus, als habe sie nicht Grips genug, zu begreifen, wer ihre Wohltäter sind, es sieht ganz so aus, als wolle sie sich um jeden Preis selbst in Schwierigkeiten bringen. In Ordnung, dann soll es halt so sein. Der Offizier namens Gyurka schmiß die kaputte Schublade zu demBesteckaufdenBodenundsagte,inOrdnung,Genosse Hauptmann, machen wir es, wie Sie sagen, gehen wir.
Der Offizier mit dem Namen Gyurka blickte meine Mutter an, nickte, dann wandte er sich zu mir und sagte, schon gut, sie würden gehen, aber nur, weil er sehe, daß wir die Blumen liebten, und wer Blumen liebe, könne kein schlechter Mensch sein, und als er das sagte, trat er zum Tisch, und ich dachte, er würde das Einmachglas doch noch umschmeißen, aber er nahm nur eine Tulpe heraus, hielt sie sich an die Nase, roch daran und sagte, das Problem mit den Tulpen sei, daß sie nach nichts duften, sonst sei es wirklich eine wunderschöne Blume, dann ging er aus der Küche, lassen Sie uns gehen, Genosse Hauptmann, und der Grauhaarige erwiderte nichts, winkte nur, er solle vorgehen, der Offizier namens Gyurka setzte sich in Bewegung, und als er an Mutter vorbeiging, reichte er ihr die Tulpe, meine Mutter nahm sie wortlos, der Offizier namens Gyurka sagte, eine Blume für die Blume, dann wandte er sich noch einmal zu mir, blickte mich an, zwinkerte mir zu, dann trat er aus der Tür und ging auch schon die Treppe hinunter.
Auch der Hauptmann ging hinaus, Mutter wollte schon die Tür hinter ihm zuschlagen, aber er setzte einen Fuß zwischen Schwelle und Tür, damit Mutter sie nicht schließen konnte, und sagte dezidiert, ganz ruhig, meine Dame, Sie werden es noch bereuen, denn wenn wir wiederkommen, reißen wir auch das Parkett auf und kratzen den Kitt aus dem Fensterrahmen, wir werden auch unter der Badewanne nachsehen, in den Gasleitungen, wir nehmen das ganze Haus auseinander, und Sie können sicher sein, daß wir finden, was wir suchen, Sie können ganz sicher sein, er schwieg, wandte sich um und ging ebenfalls die Treppe hinunter.
Daraufhin schlug meine Mutter die Tür zu, vorher hörte ich noch, wie der Offizier auf Wiedersehen sagte, Mutter drehte sich um und stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, sie stand da, mit der roten Tulpe in der Hand, blickte auf die Scherben des Bechers, die überall herumliegenden Bestecke, die zerschlagene Schublade, ihr Mund zuckte, dann wurde er langsam hart, sie preßte die Lippen zusammen und sah mich an, dann sagte sie sehr leise, ich solle Besen und Mülleimer holen, wir wollen die zerbrochenen Teile des Bechers auflesen, und ich blickte die Tulpen an, dort im Einmachglas auf dem Tisch, und ich wollte Mutter fragen, was die Offiziere über Vater gesagt haben, das stimmt doch nicht, nicht wahr, er kommt wieder nach Hause, und dann drehte ich mich zu meiner Mutter um und sah, daß sie gerade an der Tulpe roch, und ihre Augen glänzten so, daß ich wußte, sie konnte die Tränen kaum zurückhalten, und da fragte ich lieber nichts.

Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer